Die Wolke Ludmilla …
Sofia lag im Gras und träumte vor sich hin. Es war ein strahlend blauer Himmel über ihr, die Sonne schien und es war kein einziges Wölkchen weit und breit zu entdecken.
Sie schaute einfach so in das blaue Nichts und ließ ihre Gedanken treiben. Das Treiben war ganz im Einklang mit der Natur, ruhig und warm und sonnig. Die Blumen dufteten, die Vögel zwitscherten und im Hintergrund plätscherte zu allem irdischen Glück ein kleiner Bach.
Und wie sie nun so umher dachte, fragte sie sich plötzlich, wo denn bloß die Wolken alle sind. Da war es um ihre Ruhe geschehen. Die Frage ließ sie nicht mehr los und sie setzte sich augenblicklich aufrecht hin, um den ganzen Himmel nach Wolken abzusuchen. Sie konnte aber nichts finden, so sehr sie sich auch bemühte.
Aus der Schule wusste sie, dass aus den Wolken der Regen kommt, aber wo die das Wasser herholen und wo sie sind, wenn sie nicht da sind, das wusste sie nicht.
„Du Papa?“ stupste sie ihren Vater an, der neben ihr im Gras lag und die Ruhe und Entspannung genoss. „Du Papa, wo sind eigentlich die Wolken alle?“
Ihr Vater liebte die wolkenlose Zeit und war irgendwie in ganz anderen Welten, aus denen er erst langsam zurückfinden musste. Er machte sich keine Sorgen. „Keine Angst,“ antwortete er. „Die werden schon wieder kommen.“
„Haben die Wolken vielleicht Urlaub oder sind sie eingesperrt?“ bohrte Sofia weiter.
„Ach Sofia, da stellst du aber mal wieder schwere Fragen,“ versuchte der Vater die Sache erst einmal ein bisschen heraus zu ziehen und Zeit zu schinden, während er sich auch aufrichtete, um ein bisschen wacher zu werden. Er blickte um sich und stellte wiederholt fest, was für ein herrlicher Tag es doch war. Die Wolken vermisste er rein gar nicht, ganz im Gegenteil. Doch langsam war er voll da und bereit sich den neuen Herausforderungen zu stellen.
Er liebte seine Tochter sehr und es lag ihm auch sehr daran, dass sie alles von der Welt wusste und die Dinge richtig verstand. Er fand, man sollte Kinder nicht belügen. Wenn jeder Mensch nur halb soviel lügen würde, wie bisher, würde sich die Erde vielleicht nicht ganz so schnell drehen und man könnte die gesparte Zeit nützen um öfters mal miteinander zu lachen.
„Möchtest du die Wahrheit hören, oder soll ich dir was vorflunkern?“ erkundigte er sich vorsichtig.
„Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Für immer und ewig. Flunkern ist doof. Das weißt du doch.“ Sofia war immer ganz Ohr, wenn ihr Vater ihr die Welt erklärte und freute sich schon auf die Geschichte.
„Also gut, die Wahrheit.“ Er nahm seine Arme hinter den Kopf und legte sich wieder ganz gelöst zurück ins Gras. Sofia tat es ihm nach und ihr Blick verschwand erneut im Himmel. Wahrheit kann ganz schön gemütlich sein.
„Die Wolken sind, wie wir alle, Kinder dieser Erde,“ fing der Vater an. „Es sind alles nur Mädchen, wusstest du das? Sie brauchen keine blöden Jungs, die sie ärgern und mit denen sie sich streiten müssen.“ Sofia wusste schon, dass ihr Vater auch noch immer ein kleiner Junge war und freute sich über das Kompliment. „Die Wolken gehören zu den so genannten Leichten Wesen, so wie die Feen und die Elfen. Die Nebel sind ihre Eltern. Sie leben in den Welten der Engel. Die einzige Aufgabe, die sie haben, ist das Wasser so auf die Erde zu verteilen, dass die Pflanzen kräftig wachsen können und somit auch die Tiere und die Menschen immer ausreichend Nahrung haben und sich alle zusammen an ihrem Leben in dieser Welt freuen können. Die Bäche, Flüsse, Teiche, Seen und Meere sollen ja stets gut gefüllt sein.“ Er machte eine kleine Pause und verscheuchte eine Fliege, die in sein Nasenloch kriechen wollte.
„Wolken sind immer nur am spielen, trotzdem sie eine so wichtige Arbeit zu tun haben. Sie können sich in jede beliebige Form bringen. Sie genießen es, wenn wir Menschen ihnen zusehen und darüber rätseln, was sie uns gerade zeigen. Drachenköpfe, Blumen oder Gesichter. Es macht ihnen ungeheuren Spaß uns zu täuschen. Wenn sie abends zusammen sind, erzählen sie sich gegenseitig, wen sie geärgert oder erfreut haben.“
Sofia hörte aufmerksam zu. Sie stellte sich all die Wolkenformen vor, die sie schon gesehen hatte und wie die sich ständig verändert hatten. Jetzt wurde ihr vieles klar.
„Keine Wolke ist wie die andere und alle haben sie ganz hinreißende Namen. Mal sehen, ob mir ein paar einfallen. Früher kannte ich sie fast alle, obwohl es so viele sind.“
Es folgte ein spannender Augenblick der Besinnung und dann fing es an aus ihm heraus zu sprudeln: „Mathilde, Agathe, Waldhild, Lucretia, Sieglinde, Rosalie, Ambrosia, …“ –
„… , Ratberta, Petronilla, Ottilie,“ Sofia kannte anscheinend auch einige und fiel in die Aufzählung des Vaters ein.
„Wilhelmine, Nikodema, Meinhild.“ fuhr der Vater fort.
„Rosalinde, Esmeralda, Adelheide,“ wusste Sofia. Beide machten nun einen Wechselgesang.
„Hildegard, Raimunde, Meintraut.“
„Waldtraut, Violetta, Walburga.“
„Elfriede, Augusta, Klothilde.“
„Bysantia, Frodehild, Ludmilla.“
„Ludmilla, ist das nicht die, die immer diese fiesen Grimassen in den Himmel schneidet?“ fragte Sofia.
„Nein, das ist Klothilde. Ludmilla ist die liebste von allen,“ erwiderte der Vater. „Sie ist die jüngste und auch die neugierigste. Sie kommt immer als erste, um zu sehen, ob schon jemand da ist. Sie spielt doch so gerne.“
„OK, ich mach mal weiter,“ beendete der Vater das Spiel. „Du wolltest ja wissen, wo sie sind, wenn sie nicht da sind. Das ist ganz einfach. Sie schlafen. Auch Wolken brauchen ihre Ruhe. Aber anders als bei uns Menschen, sind sie nicht an Tag und Nacht gebunden. Hast du schon mal Wolken bei Vollmond beobachtet, wie sie sich an ihn schmiegen, ihn verhüllen und dann wieder den Schleier wegziehen, so dass er die Erde anlachen kann?“ Sofia nickte, das hatte sie schon oft gesehen. „Sie lassen sich einfach hinter den Horizont fallen, da, wo wir sie nicht sehen können und sie Ruhe vor uns haben. Es gibt viele Menschen, die die Wolken nicht mögen, die wünschten, dass ewig die Sonne scheinen soll. Vor denen verstecken sie sich auch. Na ja, es hat noch kein Mensch hinter den Horizont gesehen, aber ich denke, dass es dort recht kuschelig ist.“ Der Vater schlug wieder mit den Händen um sich. Die Fliege ließ nicht locker und er musste noch ein paar hektische Armbewegungen machen, um sie endgültig zu verscheuchen. Sofia freute sich. Aus irgendeinem Grund ärgerten die Fliegen immer ihn, nie kamen sie zu ihr.
„Wenn sie ausgeruht sind schweben die Wolken ungesehen zu den Meeren und füllen sich mit Wasser. So gestärkt steigen sie zum Himmel auf, wo sie auf ihre Freundinnen warten um zu spielen. Ein paar Engel sind meistens auch da. Manchmal spielen sie tagelang nur mit wenigen und manchmal sind sie alle gleichzeitig am Himmel und haben großen Spaß. Es sind dann so viele, dass uns der Blick auf die Sonne versperrt wird. Ganz früher haben sich die Wolken darüber Gedanken gemacht und versucht, wo anders zu spielen, aber irgendwann haben sie sich gesagt, dass es für uns gar nicht so toll ist, immer nur die Sonne zu sehen und dass sie uns ja schließlich das ganze Wasser bringen und seitdem amüsieren sie sich unbeschwert von ganzem Herzen.“ Sofia musste lachen, als sie das hörte.
„Jetzt kommt das Beste. In ihrem großen Überschwang fangen sie an zu tanzen. Und dann wird es nass. Ja tatsächlich, wenn es bei uns regnet, tanzen die Wolken im Himmel mit den Engeln. Wenn die Engel, die ja auch Leichte Wesen sind, wenn die nämlich die fröhlichen Wolken sehen, können sie nicht anders, als in die Freude einzusteigen und mit ihnen zu tanzen. Dort oben ist dann ein Fest, das man sich kaum vorstellen kann. Und wenn sie sich vor Glück so im Kreise drehen und hüpfen und springen und schütteln, dann fällt das ganze Wasser aus ihnen heraus und landet als Regen auf unseren Feldern und bewässert unsere Gärten.“ Da hatte der Vater gerade noch mal die Kurve gekriegt.
„Ja, das ist die ganze Wahrheit.“ Papa war stolz auf sein Wissen, das er immer wieder gerne weiter gab. Sophia lächelte und beide freuten sich an dem schönen Tag. Sie sahen in den Himmel und dachten noch eine Weile einfach so in der Gegend herum.
„Kuck mal, da kommt Ludmilla,“ rief Sophia auf einmal aus. Es kam ein leichter Wind auf und tatsächlich kam ganz hinten am Horizont eine Wolke in Sicht. Ganz zart war ihre Erscheinung. Vater und Tochter beobachteten das Schauspiel. Der Wind füllte den vorher so klaren Himmel mit Wolken. Sie kamen von rechts und von links, schlugen Purzelbäume, wuchsen und schrumpften und zeigten lustige Bilder. Eine Zeit lang schaffte es die Sonne immer noch mal wieder zwischen den Wolken hindurch zu blinzeln, doch nach einer Weile war alles zu. Jetzt ging die Feier da oben richtig los und unten wurde es dunkel. Schließlich brach ein warmer Sommerregen aus dem Himmel. Eine wohltuende Erfrischung. Papa und Sofia sprangen auf, kuckten nach oben und ließen sich die Gesichter nass regnen. Sie fielen sich in die Arme und tanzten miteinander. Sie tanzten so fröhlich, als wären sie oben im Himmel, bei den Wolken und den Engeln.
Und wenn ihr das nächste mal in einen Regen kommt, ärgert euch nicht, sondern denkt daran, wie Ludmilla mit ihren Freundinnen und den Engeln tanzt.