22010
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Der Minz – 1. Der Minz erscheint

Langeweile. Ätzende, schmerzende Langeweile.

Wieso war denn bloß nichts los? Lennert lag auf seinem Bett und verfluchte die Welt. Wieso hatte er nur die verdammte A-Karte gezogen. Alle amüsierten sich, nur er, er lag hier auf seinem Bett und hatte so dolle Langeweile, dass ihm der Bauch weh tat. Es zog durch den ganzen Körper. Allein der Gedanke an diese nicht enden wollende Zeit verursachte ihm Übelkeit und Schüttelfrost, der zuerst am Bauch anfing, sich dann in alle Richtungen durch den Körper verbreitete, um dann wieder zum Bauch zurück zu kommen. Sämtliche Arten von essbarem waren vertilgt. Es waren immer noch Ferien, seine Eltern mussten auswärts arbeiten. Lennert war neu in diese Gegend gezogen. Außer ihm gab es hier keine Jungs in seinem Alter. Die, die er schon kannte, wohnten auf der anderen Seite des Dorfes. Wer hatte ihn eigentlich in diese Welt gebracht? Wieso wurde er so gefoltert? Zeit verfliege doch, mach dem grausigen Nichts ein Ende.

Was sollte man sonst tun? Fernsehen? Zwecklos, der breitgelatschte Schwachsinn hatte sein Gehirn schon aufgeweicht. Bücher? Oh nein, spätestens nach der dritten Zeile flogen seine Gedanken aus der präzise gedruckten Bahn, machten sich fort in die Ferne, bis sie, wie ein Bumerang, wieder zu der Erkenntnis zurückkehrten, dass er sich langweilte. Malen, Musik machen, spazieren gehen? Man soll Leidende nicht verhöhnen. Es ging gar nichts. Er krümmte sich.

Es gibt sicherlich etliche Leute, die nicht Ansatz weise verstehen, was mit Lennert vor sich ging. Die den Kopf schütteln und sagen, na, dem ist wohl auch nicht mehr zu helfen. Andere werden genau wissen, was da passierte und bei der Erinnerung an eine eigene Langeweile wird ihnen selbst der Schüttelfrost hochkommen.
Es war am Ende der großen Sommerferien, das Wetter war einiger maßen passabel. Die sechste Klasse der Stadtteilschule hatte Lennert erfolgreich abgeschlossen. Sein dreizehnter Geburtstag stand bevor. … Würde er den wohl erleben? Kann man an Langeweile sterben? Er hatte noch nichts davon gehört. Das muss aber nichts heißen. Jetzt kam es hoch, jetzt musste er seinen Schmerz hinaus schreien. Ein Hilferuf drang aus ihm heraus, machte Luft. Mark erschütternd und laut:

„ES IST ALLES SO ÄTZEND!!!“

Im selben Moment klingelte es an der Tür. Überrascht von der Gleichzeitigkeit der Ereignisse, ging Lennert nachsehen, wer des sein könnte. Seinen Hilferuf konnte er gar nicht richtig auskosten. „Das ist ja voll ins Leere gelaufen“, dachte er.

Es ist nicht übertrieben, wenn man das Aussehen des Mannes, der da im Eingang stand, als merkwürdig bezeichnet. Er war mittelgroß, hatte eine gepflegte Erscheinung und trug einen hellgrauen, maß geschneiderten Anzug. Alles passte.Alles, bis auf ein paar Details, die passten gar nicht. Da war zum einen eine lange, Regenbogen farbige Haarsträhne, geschmückt mit Papageien-Federn, die aus seinem sonst sauber geschnittenem Haar nach hinten heraus hing, was an einen Indianer erinnerte. Zum anderen waren da seine völlig unmöglichen Schuhe. Genau wie die von Till Eulenspiegel. Lang und bunt einer halb gelb, halb rot, der andere halb blau, halb grün. Beide mit geschwungenen Spitzen, an denen jeweils ein Glöckchen bimmelte, sobald er einen Schritt machte. Und dann noch das Halstuch. Eine poppig bunte Schleife, reichlich größer als eine Krawatte, aber immer noch dezent.

„Hallo,“ sagte er. „Möchtest du Seegurken kaufen, kanadische Seegurken, heute morgen ganz frisch eingetroffen. Eingelegt in Krakenschleim oder lieber die mit Honig im Quallengelee?“ Er bewegte seinen Zeigefinger auf und ab, um eine Seegurke zu veranschaulichen. Dann ließ er seine Schuhe bimmeln. „Nein, im Ernst, keine Angst, Seegurken verkaufen sich nicht so gut. Ich verkaufe Staubsauger. Rote Staubsauger und blaue Staubsauger. Powersauger, die ohne Lärm dein ganzes Zimmer leer saugen, wenn du nicht schnell genug auf die Stoptaste drückst. Klein und fein. Kann man überall hin mitnehmen. Sieh mal.“ Er zog eine Tüte Gummibärchen aus der Tasche und hielt sie Lennert geöffnet hin. Nach einer kleinen Pause, als Lennert von so viel Quatsch erschlagen, nicht reagierte, meinte er, „Jetzt hast du mich ertappt. Das sind gar keine Staubsauger und blaue gibt es schon gar nicht in diesen Tüten. Gab es noch nie. Du musst denken ich bin verrückt. Dabei bin ich ganz klar im Kopf. Ich will zu Lennert und das bist du. Also stimmt das schon mal. Ich heiße Minz, Gottfried-Theodor Minz, viele nennen mich einfach nur Minz. – Ich bin der Minz.“ …

„Peng!!“

Lennert hatte genug von dem Unfug und schlug dem Minz die Tür vor der Nase zu, ohne auch nur ein Wort zu erwidern. Was war das denn? Hatte er nicht schon genug Ärger? Egal, er legte sich auf sein Bett und war gleich wieder in seiner Langeweile angekommen. Das bekannte Gefühl gab ihm Sicherheit. Sollte er noch einmal schreien? Es klopfte am Fenster. Das war natürlich der Minz. Er wollte ja zu Lennert und gab nicht einfach auf. Er winkte und lächelte freundlich. Er zog ein Schild aus der Tasche auf dem ,Hallo’ stand. Er hüpfte hin und her und machte alle möglichen Faxen. Lennert zog den Vorhang genervt zu. Die Sonne war sowieso nicht zu ertragen. Da fing es draußen an zu singen. „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz! – Ich bin der Minz. – Ach wie gut, dass du jetzt weißt, dass ich Mi-hihihinnz heiß!“ Und: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Minz der Herrlichkeit.“ Lennert blieb hart. Auch das Fenster blieb zu.

„POOOFFFFF!!“

Es gab eine kleine Stichflamme – Man mag es kaum glauben, aber nun stand der Minz mitten in Lennerts Zimmer, direkt vor seinem Bett. Er lächelte immer noch freundlich, fast ein bisschen Stolz über die vollbrachte Tat, er schien aber auch ein bisschen verärgert zu sein. Man sperrt doch den Minz nicht aus und knallt ihm die Tür vor der Nase zu. Lennert war nach dieser Showeinlage schlagartig nicht mehr langweilig. Hellwach saß er kerzengerade auf seinem Bett und erwartete den Fortgang des Schauspiels.

„So mein Freund, jetzt aber mal zur Sache,“ fing der Minz an. „Du hast mich gerufen, ich bin gekommen und jetzt willst du mich nicht rein lassen? Himbeersaft und Marzipan! Was ist hier los?“- Lennert verstand das natürlich nicht ganz. Wie wollte dieser Typ da denn gehört haben, dass er gerufen hat, dann mit Lichtgeschwindigkeit fast gleichzeitig auch schon da sein und überhaupt, Menschen poffen nicht einfach so durch Wände.
„Kommst du oft bei Leuten so herein, ich meine durch die Wand und so?“ versuchte Lennert vorsichtig ein wenig Klarheit zu bekommen. – „Das ist eine meiner einfachen Übungen. Toll nicht? Deine Neubau-Pappwand beeindruckt mich nicht im geringsten,“ übertrieb der Minz fröhlich. „Außerdem wollte ich doch zuerst durch die Tür kommen, falls du dich erinnerst.“
„Ist ja schon gut, ich kenne dich ja gar nicht und nimm’s mir bitte nicht übel, aber du bist schon ganz schön irre. Wie meinst du das denn, ich hab dich gerufen?“
„Na ja, du hast gerufen, ,Alles ist so ätzend’ und so etwas kann ich nicht gut hören. Außerdem ist hier total dicke Luft. Schlechte Stimmung, wenn du verstehst was ich meine. Die kann ich nicht leiden.“ Der Minz sah sich erstmal in Lennerts Zimmer um. „Hast du Malzbier?“, fragte er nach seinem Rundblick.
„Nee, Malzbier ist doch öde.“ antwortete Lennert. „Ich hab Lemon-Soft-Kick und Caribian-Sunshine, echt gut.“
„Hm, mal sehen,“ argwöhnte der Minz, „das ist kein guter Anfang.“

Wie wir wissen, gibt es Helden, die brauchen immer Spinat, andere müssen an Möhren knabbern, die Schmusedecke knuddeln oder ihre Pfeife paffen, um so richtig Held zu sein. Der Minz braucht Malzbier. Frisches, gut gekühltes Malzbier. Nach deutschem Reinheitsgebot gebraut, mit klarem Quellwasser angesetzt. Normalerweise hat er immer eine Flasche zur Hand. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund war sie jetzt nicht dabei. Er spült sich damit seinen Kopf frei. Gummibärchen gehen auch. Malzbier und Gummibärchen. Er nahm sich eines aus der Tüte, die noch in seiner Tasche steckte.
„Na, dann flitz mal los und hol mir so einen Caribian-Sunshine. Aber das mit dem Malzbier hat nicht lange Zeit. Das ist enorm wichtig.“ Lennert war wie der Blitz in der Küche und kam genauso schnell mit einem eiskalten Five-Pack zurück. „Mango- Chew oder Half-Way?“, bot er zur Auswahl an.
„Half-Way? Was bitte soll das sein?“ fragte der Minz entsetzt. „Das sind doch hoffentlich keine Würmer da drin, oder?“ Die bunten Glasdosen waren außen mit eingeschliffenen Kristallen verziert und von innen schien eine rot-grüne Mischung hindurch. Darin schwammen anscheinend kleine goldene Fischchen. Alles funkelte
und glänzte. „Egal, gib schon eins her.“ Leicht angewidert nahm der Minz einen Schluck. „Gar nicht so schlecht, das Zeug,“ ließ er überrascht heraus. „Gut, wo waren wir? Also, du hast mich gerufen und hier bin ich. Was ist los?“ kam er wieder zur Sache.
Lennert war natürlich von allem beeindruckt, was der Minz veranstaltete, wer wäre das nicht, er wollte ihm aber deshalb nicht erzählen, was ihn bedrückte, schließlich kannte er ihn gar nicht. – „Wer bist du denn eigentlich?“ versuchte er weiter zu forschen. – „Ich bin der Minz, das sagte ich doch schon. Und mehr gibt es da nicht zu sagen. Du wirst schon merken, wer ich bin, wenn wir länger zusammen sind. Es geht gerade um dich, also, was ist los mit dir?“, bestärkte der Minz seine Frage. Doch Lennert ließ auch nicht locker. „Bist du ein Zauberer, oder so was? Oder ein Schutzengel? Sag doch mal. Ich begreife das einfach nicht.“ Der Minz gab ein Stück nach. Er wusste ja, was mit Lennert los war, er wollte es nur von ihm selbst hören. „Wenn du mir erzählst, warum du so verzweifelt bist, verrate ich dir noch etwas von mir, aber du bist zuerst dran.“ – Lennert gab nach. Schließlich war er der kleinere, das darf man nicht vergessen: „Ich habe Langeweile und das macht mich ganz krank,“ fing er an. „Und mehr weiß ich gar nicht. Es ist alles so sinnlos.“ – „Ja, das ist schlimm. Das ist sogar sehr schlimm. Aber, weißt du was? Ich glaube ich kann dir helfen. Du musst mir nur ein bisschen vertrauen. Und jetzt verrate ich dir etwas über mich. Ich bin deinetwegen hier, aber es hat mich keiner geschickt. Ich lebe ganz alleine und ohne Chef. Ich habe gespürt, dass du mich brauchst. Wenn du meine Hilfe willst, bleibe ich, sonst bin ich genau so spontan, wie ich her kam, auch wieder weg. Ob ich ein Zauberer bin, das musst du schon selbst heraus finden.“
Ja, so ist es. Es gibt tatsächlich wenig, was man über den Minz berichten kann. Er hüllt sich in Rätsel. Man muss immer auf Überraschungen vorbereitet sein. Kann er zaubern? Sein Willen ist jedenfalls unheimlich stark, wenn es ihm um eine wichtige Sache geht. Kein Mensch weiß, wo er herkommt oder wie alt er ist. Er wohnt mal hier, mal dort. Mehr kann und darf jetzt nicht erzählt werden. Es ist doch herrlich, dass unsere Welt voller Rätsel und Wunder ist. Ohne sie wäre tatsächlich alles eine unendliche Langeweile. Ihr müsst also, genau wie Lennert selbst herausfinden, wer oder was der Minz ist.
Lennert hatte mittlerweile seinen Caribian-Sunshine Mango-Chew ausgetrunken. Er fühlte sich etwas normaler. Der Minz saß neben ihm auf dem Bett und sah sich zum wiederholten Male im Zimmer um. Ein ganz normales Jungszimmer, leicht unaufgeräumt und alles da, was ein zwölfjähriger eben so braucht. Sein Drink war auch geleert. Fast so gut wie Malzbier, er war um eine Erfahrung reicher. Die Fische darin waren so etwas ähnliches wie Gummibärchen. So gestärkt sah der Minz Lennert an und fragte, „Du hast doch soviel Zeit, hast du nicht Lust mir zu helfen?“
„Wobei soll ich dir denn helfen?“, fragte Lennert neugierig.
„Na ja, das weiß ich auch noch nicht so genau. Wir müssen als erstes eine richtig gute Aufgabe finden. Wenn man die gefunden hat, ist das wichtigste schon getan. Alles andere erledigt sich von selbst.“ Er zog ein Kartenspiel aus der Tasche.
Im Garten fing jetzt ein leicht verzweifeltes Gebelle an. Was machte denn ein Hund vor Lennerts Fenster? Sehr groß konnte der nicht sein.
„Oh nein, FouFou*, (FouFou – sprich FuhFuh) den hab ich ja total vergessen“, meinte der Minz peinlich berührt. „Er sitzt ja immer noch da draußen. Da habe ich beim ,Durch-die-Wand- poffen’ wohl etwas falsch gemacht.“ Er ging zum Fenster, öffnete es, beugte sich heraus und holte einen knuddeligen, kleinen, schwarzen Hund herein. Nicht mal so groß, wie ein Dackel. Am meisten erinnerte er an einen Terrier mit seiner felligen breiten Schnauze, aber bei genauem Hinsehen, konnte man etliche Hunderassen in ihm entdecken. Ein übergroßer spitzer Schnurrbart und lange Wimpern, die seine niedlichen Knopfaugen fast völlig verdeckten machten ihn unwiderstehlich. „FouFou, dieser närrische Hund, ist mein treuer Begleiter. Ganz allein bin ich also doch nicht.“ FouFou sprang auf den Boden und war mit einem Satz auf Lennerts Schoß. Lennert nahm den kleinen Kerl sofort auf den Arm und krauelte ihn, worauf hin FouFou ihm ordentlich das Gesicht ableckte. Das war Liebe auf den ersten Blick. Was sollte jetzt noch schief gehen.
„Natürlich bleibt ihr!“, rief Lennert aus. Er war wie im Rausch. Wo war sie nur hin, die Langeweile?
Lennert und FouFou lernten sich schnell kennen und nachdem die beiden eine Weile so rumgeschmust hatten, nahm der Minz wieder das Kartenspiel zur Hand. „Tarot- Karten!“ dachte Lennert. Die kannte er von seiner Oma. Es waren aber keine gewöhnlichen Tarot-Karten. Es waren die Karten vom Minz. „Zieh eine Karte, irgend eine. Mal sehen, was für tolle Aufgaben wir bekommen.“ Lennert zog mit Bedacht. Er drehte die Karte um, um sie sich anzusehen. Es war eine Rose. Eine wunderschöne Rose. Rosen gehören nicht zum Tarot-Blatt. Wo kam diese Karte her? Ein leichter Windhauch ging durch das Zimmer. Es wurde heller. Die Rose fing an aus der Karte herauszuwachsen. Das ganze Zimmer verwandelte sich in ein Blumenmeer. Aus allen Ecken wuchsen die prachtvollsten Blüten hervor, wie eine Explosion. Eine nicht zu beschreibende Fülle. Es war einfach Wow. Vögel flogen umher. FouFou bellte unaufhörlich und versuchte sie zu fangen, bis der Minz ihn beruhigte.
„So schön hat noch keiner diese Karte gezogen, Lennert.“ freute sich der Minz. Er war berührt von dem Schauspiel. „Die Rose, die Königin der Blumen. Mit all ihren Freundinnen. Das bedeutet Glück, Liebe und Freude. Das ist unsere Aufgabe. Wir sollen die Welt bunter machen. Oh Mann, ich hab schon tausend Einfälle. Wie gehts dir?“
Lennert schwieg. Er war, wie man so schön sagt, völlig Baff. Eins war ihm klar. Diese Karte war keine A-Karte. Er hatte null Ahnung was jetzt noch alles passieren würde, aber es konnte eigentlich nicht wirklich schlecht werden.
So, wie die Flut sich leicht und unmerklich zurückzieht, nachdem sie sich mit ihren Wellen am Ufer ausgetobt hat, so löste sich auch das Blumenmeer ganz langsam wieder auf, bis alles wieder so war wie es immer war. Das Feuerwerk war vorüber.
Der Minz steckte sein Kartenspiel ein. „Wenn ich dich richtig verstanden habe, möchtest du also, dass ich bleibe. Das ist gut. Und wie du gesehen hast, haben wir viel vor. Komm FouFou wir müssen jetzt gehen.“ Er ging zur Tür. „Ich komme dann morgen wieder.“ Der Hund folgte ihm brav, aber nicht, ohne sich vorher von Lennert zu verabschieden. Als der Minz schon durch die Gartenpforte war, rief Lennert ihm noch nach, „Du kommst auch bestimmt, oder?!“ Der Minz antwortete aber nicht mehr.

Fortsetzung folgt …