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Über die Löcher im Herzen …

Julia lebte alleine mit ihrem Vater. Seit dem Tod der Mutter waren sie ein untrennbares Team. Julias Mutter war, als Julia noch klein war, gemeinsam mit Julias Schwester bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

Der Vater war in der Zeit der Trauer über sich selbst herausgewachsen. Er war seitdem Vater und Mutter für Julia. Und Julia genoss das. Aber Julia war sehr jung gewesen damals und hat eigentlich gar nicht viel davon mitbekommen. Weder Mutter noch Schwester hatten große Erinnerungen bei ihr hinterlassen. Trotzdem fühlte Julia die Lücke. Ein Vater kann eben keine Mutter ersetzen. Andersherum geht es auch nicht.

Und der Vater, er wurde im Laufe der Jahre immer stiller. Er arbeitete wie ein Besessener, um sich von dem Geld, das er verdiente, alles mögliche an Zeugs zu kaufen, das er gar nicht benötigte. Julia wurde überhäuft mit Nettigkeiten. Oft vergnügte er sich mit seinen Bierchen oder ähnlichem. Seine Kraft verließ ihn schließlich. Julia merkte all diese Veränderungen und wurde sehr traurig darüber.

Eines Tages, als sie gemeinsam am Kamin saßen, sah sie ihn mit einem Blick, der tief in sein Inneres drang, an. Sie betrachtete sich sein Herz und seine Seele und sagte nach einer Weile, „Papa, ich habe etwas entdeckt. Du hast ein großes Herz und das ist wunderschön. Das spüre ich auch jedes mal, wenn du mich in die Arme nimmst. Aber mitten in deinem Herz hast du riesige Löcher und diese Löcher versuchst du mit allen möglichen merkwürdigen Sachen zu stopfen.“

Der Vater wurde ganz still. Er fühlte sich ertappt. – „Was siehst du denn sonst noch alles?“

„Ich fühle, dass das nicht geht. Ein Herz lässt sich nicht mit Geld und Dingen reparieren. Dein Herz ist warm und all diese Sachen sind kalt.“ Sie sah ihren Vater eindringlich an.

„Die Löcher sind ganz wund, blutig und eitrig und sie sind zu gewuchert mit Bildern aus deiner Vergangenheit“, fuhr sie fort. „Dort ist eines, wo dir ein Junge deinen Kuschelteddy klaut. Und hier ist dein Hamster gestorben. Da drüben ist eines, da ist dein bester Freund fort gezogen. Und da links lachen ganz viele Kinder über dich, weil du so eine komische Hose anhast, die dir deine Mutter gekauft hat.“ Sie lachte, weil die Hose tatsächlich komisch aussah. Julia kannte sie von einem vergilbten Foto.

Der Vater hörte seiner Tochter aufmerksam zu. Julia machte eine Pause. Dann atmete sie ganz tief ein. „Ach Papa und hier das große Loch, das ist ganz schlimm, da sind Mama und Lene gestorben.“ Julia musste schlucken und die Tränen kullerten ihr aus den Augen. „Wie war Mama?“

Julia hatte auch ein großes Loch in ihrem Herzen. Da fehlte eben schon immer etwas. Sie hatte es nie anders gekannt. Aber Julias Loch war nicht ganz so wund und eitrig, der Vater hatte es ja all die Jahre gepflegt. Sein eigenes hatte er darüber allerdings vergessen. Er war zwar immer mal traurig, er hatte aber nie geweint. Er war immer stark gewesen.

Im Vater kam auf einmal ein ganz wundersames Gefühl auf. Alles, aber auch wirklich alles, war auf einmal da. Sein Leben lief vor ihm ab, wie ein Film und all die Male, an denen er sein Leid weggeschluckt, es einfach beiseite gewischt oder auch gar nicht als Schmerz erlebt hatte, war da. Und gleichzeitig war da eine unbeschreibliche Wärme, die alles hielt. Ein fröstelndes Zittern umkreiste seinen Körper. Dann passierte es. Es brach auf, löste sich. Jetzt endlich, nach all den Jahren, musste der Vater plötzlich weinen. Tränen flossen. Julia hatte anscheinend den wunden Punkt getroffen. Es war dieser eine Punkt, an dem es einfach genug ist, an dem nichts mehr geht.  Er weinte all das, was er in seinem Leben nicht geweint hatte. Der Druck war zu groß. Ein Staudamm war gebrochen und das Wasser ergoss sich ins Tal und aus all den dunklen Wolken, die sein Herz umgaben brach der Regen hervor. Julia nahm ihren Papa in den Arm und sie weinten gemeinsam. Das tat gut, es war so erleichternd.

„Deine Mama war eine ganz besondere Frau“, quälte sich der Vater durch die Tränen. „Wir hatten uns richtig lieb und wir wollten noch soviel zusammen machen.“
Die beiden, Vater und Tochter, hatten es stets vermieden, über Julias Mama zu reden. Wenn das Gespräch auf sie kam, sahen sie sich meistens verständnisvoll an, wussten dass ihnen beiden das gleiche fehlte. Sie lenkten ab, um dann wieder darüber zu schweigen. So wußte Julia tatsächlich nicht sehr viel über ihre Mutter. Sie kannte die Fotoalben und ein paar Videos, und ein paar Geschichten, die immer wieder von ihren Großeltern erzählt wurden, aber über die Seele ihrer Mutter wusste sie nichts.

Gemeinsam beschlossen Vater und Tochter noch an diesem Abend, dass sie das ändern müssten. Sie wollten die Trauer abbauen, wollten die unsichtbaren Wolken vertreiben. Sie wollten das Bild der Frau und Mutter und der Tochter und Schwester, die sie so vermissten, so nehmen, dass sie Lebensenergie daraus schöpfen konnten.

Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, aber man kann Kraft aus dem Erlebten gewinnen. Es war ein kurzer Moment der Erleuchtung, der ihnen Energie gab, aber es war ihnen wahrscheinlich nicht ganz klar, was für einen schweren Weg sie jetzt gehen würden.

In der kommenden Zeit sah sich der Vater sein Leben und seine Gefühle ganz genau an und dabei musste er ganz viel weinen. Da kamen immer wieder die Momente der Freude und immer wieder die Trauer über deren Verlust. Er nahm sich Zeit und Ruhe, um in Kontakt mit sich selbst zu kommen. Er ging umher von Loch zu Loch. Er bereiste seine Seele. Und nachdem er sich alles angesehen hatte, merkte er, wie es anfing ihm besser zu gehen. Es dauerte über ein Jahr, bis er merkte, dass sich die Dinge veränderten. Er ging wieder und wieder den steinigen Weg von den wunden Löchern zu den Seen der ungeweinten Tränen. Und wieder und wieder ging er in seinen Schmerz, dachte an die schönen Zeiten die er hatte und die er noch haben wollte  und weinte bitterlich. Es war, als holte er das heilende Wasser der Tränen und behandelte damit die Wundstellen in seinem Herzen, die nach und nach zu heilen begannen. Sie würden nie ganz zu wachsen, aber das war auch nicht schlimm. Auf seinen Wegen durch seine Seele entdeckte er viele Dinge, die er in all den Jahren zugeschüttet hatte. Die nahm er mit. Es hatte etwas von Neuanfang. Lange vergessene Freunde, Dinge, die ihn beschäftigt hatten, die er immer schon mal machen wollte. Er fing an aufzuräumen. Oft saß er mit Julia zusammen und erzählte ihr von ihrer Mutter. Er entdeckte dabei Seiten an ihr, die er gar nicht gesehen hatte, als sie noch lebte. Das alles war auch gut für Julias Herz.

Er merkte vor allem irgendwann, dass der Schmerz des Verlustes sich auflöste, weil er die Energie der anderen in sich am Leben spürte. Das herzliche Lachen seiner Frau, der Gesang seiner Tochter, die liebende Fürsorge seiner Mutter, die Verrücktheiten von Freunden, alles war gar nicht fort, sondern war in ihm. Es wurde in ihm zu einem Teil von ihm. Alles, was uns geschieht, was uns begegnet und uns umgibt, ist Energie, die in uns weiter schwingt, uns ständig neu formt. Und diese Energie geht von uns genauso auf die anderen über.
Wir können die Dinge nicht halten, ewig bewahren, aber wir können sie mit Leben füllen, Schwingungen weiter durch die Welt tragen, Neues erschaffen.

Eines Tages sagte er dann zu seiner Tochter, „Nun wie sieht mein Herz jetzt aus?“

Julia sah ihn an wie damals. Sie sah wieder tief in sein Inneres. Wie schön das war. Alles leuchtete und war warm. Es war wunderbar verheilt. An den Rändern der Löcher wuchsen jetzt herrliche Pflanzen und um die Bilder der Mutter war eine üppige Blumenpracht. Und mit vielen von den anderen traurigen Bildern waren lustige Dinge passiert. Sie waren ganz bunt und hingen hoch oben in strahlendem Licht. Sie brachten einen zum schmunzeln. Da war zum Beispiel der Junge, der den Teddy geklaut hatte. Er hatte jetzt Eselsohren und eine lange Nase.
Julia war überwältigt und musste den Vater spontan in den Arm nehmen.

„Du Papa, es ist nicht wahr, dass die Zeit alle Wunden heilt“, fing Julia an. „Es dauert Zeit, bis Wunden verheilen, aber pflegen muss man sie selber und sehr sorgsam sogar. Und wenn man sie nur zu wuchern lässt, wird es darunter wund und eitrig. Alles fängt an zu jucken und zu schmerzen. Man denkt immer, da muss man jetzt etwas reintun. Und weil alles zugewachsen ist, weiß man gar nicht, woher der Schmerz kommt.“

Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee und dachte weiter nach. „Viele kleine Löcher können schlimmer sein, als ein großes. Wir sollten als Menschen ein bisschen mehr darauf achten, wie wir miteinander umgehen. So ein Loch ist bei  einem anderen Menschen  schnell mal rein gerissen.“ Man merkte ihr an, dass es ihr viel besser ging und sie sich wohl fühlte mit ihrem genesenen Vater, der wieder ganz oft fröhlich war.

„Und weißt du noch was?“, kam sie zu ihrem Gedankenschluss.  „Es gibt Menschen, denen ist das Herz eingefroren, oder zu Stein geworden. Die muss man auftauen oder erweichen. Ganz schlimm geht es den Menschen, denen man das Herz herausgerissen hat. Die haben da nur noch ein Loch. Denen kann man nur helfen, indem man sein Herz mit ihnen teilt. Vielleicht wächst ihnen dann irgendwann ein Neues. Aber das sind Wunder und sie geschehen nur selten, weil es eben so schwer ist. Aber es geht, wenn man an das Leben glaubt.“

Bei ihnen fühlte sich gerade alles richtig gut an. Es war gut so.

„Da sind mir doch noch ein paar Löcher geblieben“, meinte der Vater nach so viel Weisheit seiner Tochter, „aber die muss man nicht mehr mit so großen Dingen stopfen. Da passt höchstens noch ein Eis rein. Ein ganz leckeres muss es sein und das holen wir uns jetzt.“